Am 30. August 2015, vor drei Wochen also, ist Oliver Sacks in New York City gestorben und die Gay Community hat einen ihrer profiliertesten und herausragendsten Vertreter verloren.
Wer war Oliver Sacks ? Etwas zugespitzt gesagt: Er war "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte". So lautet jedenfalls der Titel eines seiner Bücher, mit denen er weltbekannt wurde. Sacks war Neurologe und Neuropsychiater und verfügte über die Gabe, die auf diesem Gebiet auftretenden Krankheitsbilder wie Autismus, Alzheimer, Parkinson, Tourette-Syndrom usw. wissenschaftlich korrekt, jedoch allgemeinverständlich dazustellen. An Hand von Fallgeschichten beschreibt Sacks mit großer Intensität, was solche neurologischen Befunde für die Betroffenen und ihr Umfeld bedeuten.
Filme, Theaterstücke und sogar eine Oper haben auf seine eindrücklichen und plastischen Schilderungen zurückgegriffen.
Seine Bücher sind alle auch auf deutsch bei Rowohlt erschienen, wobei der Verlag auch vor Populismus nicht zurückschreckt. Sein fundiertes und bahnbrechendes Buch über Halluzinationen heisst auf englisch einfach und treffend "Hallucinations", im Deutschen hingegen reisserisch "Drachen, Doppelgänger und Dämonen". Der Titel soll wohl bewusst falsch Erwartungen wecken. Denn inhaltlich ist es ein informatives und seriöses Buch.
Dass wir etwas Vorhandenes nicht sehen, kommt natürlich ständig vor. Wir sehen Dinge nicht, die aber da sind. Handelt es sich etwa um einen Poller, der beim Einparken übersehen wurde - eine von meinen Freunden derzeit besonders bevorzugte Art des Nicht-sehens -, handelt es sich eindeutig nicht um einen Fall für die Neuropsychiatrie, sondern um eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den Karosseriebauer, meist nicht unter 500 €.
Nun aber der umgekehrte Fall: Einer sieht, was in Wirklichkeit nicht da ist. Wie verhält es sich mit dem großen grünen Frosch, den einer auf seiner linken Schulter sitzen sieht ? Was läuft dabei in seinem Kopf ab - immer unterstellt, dass da wirklich kein Frosch sitzt? Und wie behandelt man so ein Phänomen ? Ist es schon als Behandlungserfolg anzusehen, wenn der Frosch allmählich kleiner wird oder muss er ganz verschwinden ? Derartig drängende Fragen beantwortet das Buch.
Um ähnliche Fragen geht es auch in seinen anderen Büchern über Migräne, über Gehörlose und über das Phänomen, dass einer zwar eine tatsächlich vorhandene Rose erkennt, sie aber nur als "gefaltetes rotes Gebilde mit grünem Anhängsel" beschreiben kann. Das alles ist seriös und spannend zugleich dargestellt.
Kurz vor seinem Tode hat Sacks auch noch seine Lebenserinnerungen fertiggestellt, die Anfang des Jahres unter dem Titel "On the Move" auf englisch erschienen sind und nun auch schon unter dem gleichen Titel auf deutsch vorliegen.
Hier können wir den Lebensweg dieses bedeutenden homosexuellen Arztes und Psychiaters verfolgen, der ihn vom heimatlichen London über die medizinische Ausbildung in Oxford nach Kalifornien führt, das auch anderen bedeutenden Engländern zur mindesten vorübergehenden Wahlheimat wurde: Christopher Isherwood, W. H. Auden, David Hockney, Alfred Hitchcock. Die Schönheit des Landes begeistert den notorischen Motorradfahrer Oliver Sacks. Es war die Zeit des Easy-Rider-Feelings und das hat er voll ausgekostet. Dennoch zieht es ihn 1965 schließlich nach NYC, wo er nach einem sehr spannenden Leben mit vielen Aufs und wenigen Abs vor drei Wochen im Alter von 82 Jahren an Leberkrebs starb.
Sacks eigene Darstellung seines eigenen Lebens ist zwar nicht ganz frei von Eitelkeiten. Anfeindungen von Kollegen blieben nicht aus, lassen ihn aber meist um so strahlender erscheinen. In seinen jungen Jahren war er sogar als Gewichtheber aktiv, was nachzumachen er aber nicht empfiehlt. Immerhin hält er mit seiner Homosexualität nicht hinter dem Berge. Großartiges hat er aber nicht zu offenbaren. Die jeweiligen Beziehungskisten und Sexabenteuer werden kurz berichtet, wenn auch manchmal nicht besonders einfühlsam. Mit vierzig hat er das letzte Mal Sex gehabt. Und das ist jedenfalls etwas, das mir doch reichlich fremd vorkommt.
In seinem Buch bekennt er sich auch zu einem, sagen wir mal, zeitweise nicht unbeachtlichen Drogenkonsum und dadurch auch bei ihm selbst hervorgerufene Halluzinationen. Sehr eindrucksvoll gelingt ihm die Schilderung einer Party von Drogenabhängigen, die durch eine Droge namens "angel dust" gerade kurz vor dem Kollaps steht. Ich bin besonders davon beeindruckt, dass er eben nicht zu einem Junkie geworden ist, sondern es mit viel Willenskraft geschafft hat, auch von den härteren Drogen wieder loszukommen. Das kriegt nicht jeder hin.
Spannend zu lesen: Oliver Sacks, On the Move: Mein Leben, Rowohlt-Verlag, 397 S.