Wer sich ein bisschen für schwule Literatur interessiert, ist sicher schon auf Edmund White gestoßen. Besonders die vier autobiografischen Romane Selbstbildnis eines Jünglings, Und das schöne Zimmer ist leer , Abschiedssymphonie und The Married Man haben großes Interesse gefunden. Aber auch als Mitverfasser des Sachbuches "Die Freuden der Schwulen - ein Handbuch zum Leben und Lieben" ist er uns auf vielen Büchertischen mindestens schon mal begegnet. Das war natürlich eines seiner finanziell erfolgreichsten Bücher - sex sells - und das - wäre es nur nach ihm gegangen - eigentlich die "Trostlosigkeit von schwulem Sex" hätte heissen müssen.
All das und vieles mehr erfahren wir aus Whites Erinnerungen an die 60er und 70er Jahre, die unter dem Titel "City Boy" im Bruno Gmünder Verlag jetzt auf deutsch erschienen sind.
Die 60er, das war die Zeit, als White, selbst in seinen 20ern, aus einer Provinzstadt nach New York übersiedelte. Das war die Zeit des Stonewallaufstandes vom 28. Juni 1969 bis zum Ausbruch der HIV-Infektion, die das Leben so radikal veränderte. Mit spannender Lektüre ist also zu rechnen.
Indessen, ganz so spannend wird es dann doch nicht. Denn wir haben es - anders als etwa bei Isherwood - nicht mit Tagebüchern zu tun, sondern mit einem im Jahre 2009, also ca. 40 Jahre später verfassten Rückblick. Das ändert die Perspektiven denn doch gewaltig! Im Tagebuch kann man das Offene von offenen Situationen hautnah miterleben. Die verschiedenen Optionen hängen wie lose Kabelenden herum und keiner, der Leser und auch der Schreiber des Tagebuchs wissen von Tag zu Tag nicht, wie es weitergeht. War dieser kurze Blickkontakt schon die Begegnung mit dem nächsten Lebensabschnittspartner oder war es nur ein Wimpernschlag? War würde auf den zitterfingrigen Adressenaustausch folgen: alles oder nichts? Das Tagebuch macht alles möglich. Dazu das schön bunte Durcheinandergewürfel von Menschen und anderen items, ähnlich wie die Abteilung "Wildes Wissen" in der immer noch laufenden sehenswerten Ausstellung "Homosexualität_en" das macht. Kurz, ich liebe Tagebücher!
Aber White bietet uns kein Tagebuch, sondern eine Rückschau. Der Autor weiss beim Schreiben, wie es weitergegangen ist, was sich alles entwickelt hat, was sich nicht entwickelt hat und was ganz schnell wieder verschwunden ist. Und also werden Linien gezeichnet, es wird gebündelt, es wird zusammengefasst, manchmal sind schon kurze Essays eingelagert. White spricht schon 2009 ausdrücklich vom Vorhandensein verschiedener Homosexualität_en und nimmt so bereits den Titel der schon erwähnten und unbedingt besuchenswerten Ausstellung "Homosexualität_en" im DHM bzw. Schwulen Museum* vorweg. Er weist auch drauf hin, dass es in der Lebenswirklichkeit schwuler Männer immer wieder neue Phasen mit neuen Möglichkeiten und neuen Bedingungen gegeben hat und schlägt den Bogen von der McCarthy-Zeit über Stonewall und HIV bis zum juristischen Kampf um Gleichstellung, der mit dem jüngsten Urteil des Supreme Court zur Ehe für alle einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Jedoch möge niemand meinen, hier trete nun ein Stillstand ein. White lässt keinen Zweifel daran, dass es auch wieder rückwärts gehen könnte, wenn wir nicht wachsam sind.
Bei all diesen Zusammenfassungen geht jedoch oft die erzählerische Lebendigkeit verloren. Warum der Sex mit einem Partner trotz aller Anstrengungen und Bemühungen nie geklappt hat, aber eine tiefe Freundschaft zwischen beiden Männern entstanden ist - das hätte man doch gern im einzelnen dargestellt, erzählt, meinetwegen auch ausgeplaudert bekommen. So ist das nur ein dürres Grätengerippe ohne Fisch dran. Vielleicht gibt es in den autobiographischen Romanen farbige Schilderungen der damit verbundenen Situationen und Abläufe, White hätte sich zusagen schon "auserzählt". Ich weiss es nicht, ich habe nicht alle gelesen. Aber so wie hier ist mir das erzählerisch zu dürr.
Statt dessen erfahren wir jedoch ganz viel darüber, wie der eben nach NYC übersiedelte White versucht, dort als Schriftsteller Fuß zu fassen. Es dauerte bis 1973 als endlich sein erstes Buch "Forgetting Elena" erschien. Ja, es war das erste veröffentlichte Buch, aber das 7., das er geschrieben hatte. Wow! Was für eine Disziplin und Frustrationstoleranz muss einer haben, dass er das durchhält. Wir erfahren, wie White mit dieser Situation umgegangen ist. Und wir lesen über Seiten auch von Kontakten zu und Freundschaften mit anderen Schriftstellern und Persönlichkeiten der Kulturszene. Darunter William Burroughs und Peggy Guggenheim. Meist sind es aber alles Leute, von denen wir noch nie gehört haben und die es nicht mal in die englischsprachige Wikipedia geschafft haben. Dementsprechend dröge ist das alles für den, der nicht in schwuler Literaturwissenschaft zu Ende des 20. Jahrhunderts eine Doktorarbeit verfassen will. Die Geschichten sind aber oft skurril. So erfahren wir, dass Peggy Guggenheim vor ihrem Palazzo in Venedig eine Reiterstatue aufgestellt hatte, bei der der Reiter von dem Künstler mit einem erigierten Penis ausgestattet worden war. Der Penis liess sich aber abschrauben, was Peggy auch eigenhändig tat, wenn mal ein Kardinal oder anderer Geistlicher zu Besuch vorbei kommen sollte. Spannend fand ich auch den Kontakt, ja, sogar den sehr engen Kontakt, den White und Vladimir Nabokov miteinander hatten, ohne dass sie sich begegnet waren.
White verdiente sich acht Jahre lang den Lebensunterhalt mit dem Zusammenstellen von extrem langweiligen Time-Life-Bildbänden und wechselte dann Anfang der 70er für gut zwei Jahre nach San Franciso. Er hat nur Spott für dieses Öko-Krishna-Califonia übrig. Nach seiner Schilderung muss SFO damals eine gemütlich beschauliche Idylle gewesen sein, bevor AIDS über die Stadt hereinbrach und bevor sein Flair nun von den Nerds aus dem nahegelegenen Silikon Valley bestimmt wird und wieder ganz anders ist.
Ein interessantes Buch, jetzt auf deutsch:
City boy, Bruno Gmünder Verlag, 320 S.
© Jörg Bressau